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Kein Geringerer als der Filmgelehrte himself heftet sich von nun an und in alle Ewigkeit mit diesem scharfsinnigen und bestens recherchierten Essay in jede DVD des Hauses Neue Massenproduktion. "Na dann, wenn ich das hier lesen kann, brauch ich ja die DVD nicht kaufen!", mag der geneigte Sonderling denken, aber da hat er die Rechnung freilich ohne das Phantastische, Absonderliche und Unerklärliche gemacht. Jeder siebten DVD liegt der Text nämlich auf nicht als solchem auszumachenden Zauberesspapier gedruckt bei. Isst man es, nimmt man die gesamte Weisheit des Gelehrten in sich auf. Seltsam? Aber so steht es geschrieben.



Trau, schau, wem

Die Filme der Neue Massenproduktion


Kunst, die auf sich selbst reflektiert, ist eigentlich ein Spiegel. Das Spiegelbild sind entweder wir oder die Kunst. Das kommt immer auf den Blickwinkel an. Wenn Kunst sich von ihrem eigenen Spiegelbild löst, wird sie zum reinen ästhetischen Gedanken. Am Ende steht immer der Mensch.

Sascha Dornhöfer und Alexandra Rothert entstammen künstlerischen Traditionen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Daß sie ihre Vision bündeln und einer staunenden Weltöffentlichkeit zum Geschenk machen konnten, darf als ein ausgesprochener Glücksfall bezeichnet werden. Die Kurzfilme, die diese DVD enthält, bringen elf Jahrzehnte der Filmkunst zu einem vorläufigen Höhepunkt.

Als Sascha Dornhöfer sich dazu entschloß, das Filmhandwerk zu erlernen, durfte er bereits auf eine langjährige Karriere als Ballettttänzer zurückblicken. Frühe Triumphe feierte er am Bolshoi-Ensemble. Besonders seine Darstellung des traurigen Helden in Bruzhkins erschütterndem Spätwerk Spargelquadrat riß die Weltpresse zu hymnischen Rezensionen hin. Als er merkte, daß er auf diesem Terrain kein Neuland würde betreten können, hing er die Ballettschuhe an den Nagel und wandte sich dem Film zu. Langjährige Studien ließen ihn die Essenz des Kinos aufsaugen. An der Seite von Dr. Alexander Kluge erlernte er das Handwerk. Nach einem Zerwürfnis mit seinem Mentor ging er in medias res und assistierte zahlreichen Pornofilmern als Cutter. Sein einziges, unter Pseudonym verfaßtes Regiewerk aus dieser Zeit, Holly Fuck Does Düsseldorf, nimmt der sympathische Künstler gelassen. Das war halt der Freigeist jener Tage, schmunzelt er und saugt an seiner berühmten Meerschaumpfeife.

Alexandra Rothert entstammt einer legendären Künstlerfamilie. Ihre italienischen Wurzeln lassen sich zurückverfolgen bis in die Zeit von Kolumbus. Obwohl ihr die Kunst somit in die Wiege gelegt worden war, versuchte sie sich zunächst an einem Fachgeschäft für Gärtnereibedarf. Eine von ihr selbst entwickelte Gartenkralle entwickelte sich zu einem kleinen Verkaufsschlager. Doch das Blut der Ahnen ließ sich nicht lange verleugnen. Sie befaßte sich eingehend mit der Filmkunst und verfaßte u.a. eine Abhandlung über die erotischen Kurzfilme der Inuit-Eskimos, Der heiße Iglu. Mit ihren in sehr anschaulicher Prosa gehaltenen Texten erreichte sie ein Bildungsbürgerpublikum, doch war es die Praxis des Filmhandwerks, die sie anstrebte. Nach einer kurzen Phase, in der sie als Fotomodell für Publikationen wie Chez, Pronto und Sport-Bild arbeitete, verfaßte sie erste Drehbücher zu eigenen Filmprojekten. Ihr Dilemma war allerdings die Durchführbarkeit der Vorhaben. Kaum ein Drehbuch eignete sich für ein Budget unterhalb der 10-Millionen-Euro-Grenze. Da sich kein solventer Gönner fand, warf sie zunächst das Handtuch.

Der Glücksfall, welcher die beiden Künstler zusammenführte, trug sich zu im gemütlichen Schatten der Statuen auf den Osterinseln, wo Herr Dornhöfer und Frau Rothert gastierten, er als Assistent eines weiteren Pornoprojekts namens Easter Eggs, sie nach einer unglücklichen Liaison mit dem Jetsetter und Globetrotter Baron Schickendantz. Als sich die beiden trafen, war es ihrem eigenen Bekunden nach, als hätten sie sich ewig gekannt. Sie tauschten Flausen aus und erkannten die Möglichkeiten, die sich aus einer Zusammenarbeit ergeben würden. Der Same war gelegt.

In den folgenden Jahren entwickelten sie eine Kunstform, die heute als Ar Brüh internationale Anerkennung genießt. Sie geht von der Prämisse aus, daß ein großes Budget nicht nur nicht erforderlich für den Erfolg eines künstlerischen Projektes, sondern ihm sogar direkt abträglich ist. Der Mensch ist nackt und einsam, und nackt und einsam ist sein Abbild im Film , sinniert Frau Rothert in einem Essay. Was immer das Kino über die Wahrheit hinter dem Fleisch aussagen kann, entfaltet sich erst durch die Reduktion, durch einen kalkulierten Zusammenprall von Improvisation und Raffinement. In diesem Sinne machten sich die beiden an die Erschaffung ihres überbordenden Oeuvres, das sich bis heute aus über 1000 Kurzfilmen zusammensetzt- "Facetten, die wie einzelne Zellen einen lebenden Organismus bilden, das Abbild des Individuums, das zum Individuum selbst wird." (S. Dornhöfer)

Die für diese DVD zusammengestellten Vignetten und Miniaturen wirken roh und unbehauen, sind aber tatsächlich das Resultat einer langen Auseinandersetzung über den Zusammenhang von Geometrie und Seele. Zahllose Absinthbesäufnisse führten zu Einsichten über das Wesen der Natur im allgemeinen und des Menschen im besonderen, die in dieser Prägnanz einzigartig sind. Ein Strich ist nicht nur ein Strich, sondern Strich plus , lautet einer der berühmtesten Formulierungen von A. Rothert. Das Prinzip des Strich plus durchzieht die Filme wie ein roter (Rothert-?) Faden. An seinem Ende steht der Mensch, nackt und bloß. Der Film hat aufgehört, Film zu sein. Der Mensch ist durch den Spiegel gegangen und hat sein Spiegelbild ersetzt. Wohin das führen wird? Die zukünftigen Arbeiten des Duos werden es uns lehren.

Christian Keßler, Gelsenkirchen, August 2010